Ein Schwieriger, aber nicht nur
Der Dirigent Carlos Kleiber in einer Biografie und einem biografischen Versuch
von Daniel Ender
Internationale Ausgabe, 23./24. August 2008
Anmerkungen zur Rezension von Daniel Ender in der Neuen Zürcher Zeitung vom 23./24. August 2008
Mit Quellen kritisch und sorgsam umzugehen, war für mich Pflicht. Dies galt natürlich auch für die Zeitzeugen. Auf ein Zauberflöte-Dirigat Kleibers hatte mich schon früh eine Sängerin hingewiesen, die allerdings weder bei der Aufführung mitgewirkt noch sie verfolgt hatte. Erst eine Kollegin, die als Gattin des Stuttgarter Betriebsdirektors zudem über interne Informationen verfügte, konnte sich sehr detailliert an die Vorstellung und an die Umstände erinnern, die diese überhaupt ermöglichten. Ihre Aussagen waren äußerst konkret und glaubwürdig, umso mehr als sie mir dies nicht nur in einem, sondern in mehreren Gesprächen ohne jegliche Erinnerungslücken, widersprüchliche Aussagen oder Mutmaßungen vermittelte. Dies galt auch für ihre durch andere, zuverlässige Quellen bestätigten Erinnerungen an die Hintergründe von Kleibers erstem Engagement an der Wiener Staatsoper im Jahr 1973, das ihr Gatte arrangiert hatte. Sie beschrieb, wie der Stuttgarter Betriebsdirektor den widerstrebenden Kleiber überredete, in Stuttgart eine Repertoirevorstellung der Zauberflöte zu übernehmen, die dieser dann unter Pseudonym ohne große Begeisterung mehr oder weniger durchlaufen ließ. Insofern dürfte diese Aufführung künstlerisch wenig über Kleiber als Mozart-Dirigent aussagen und sie besitzt nicht den Stellenwert seiner ersten Rosenkavalier- oder Otello-Übernahmen an der Deutschen Oper am Rhein, die er mit großem Engagement vorbereitete und leitete.
Wie sorgsam und kritisch Zeitzeugenaussagen unter die Lupe genommen und hinterfragt werden müssen, zeigte mir beispielsweise die Auskunft eines Kollegen Kleibers, dieser habe an der Wiener Volksoper Das schlaue Füchslein dirigiert. Tatsächlich aber stellte sich heraus, dass Kleiber zwar diese Oper übernehmen sollte, dann aber kurzfristig ein anderer Dirigent damit betraut wurde eine wesentliche Episode für Kleibers Zeit an der Volksoper.
Eine ganz besondere Herausforderung bedeutete für mich, das Verhältnis von Carlos Kleiber zu seinem Vater Erich zu ergründen. Hier hatten sich in den Jahrzehnten Gerüchte und Anekdoten zu vermeintlichen Tatsachen verfestigt, die meist eher unreflektiert und ohne Bezug auf zuverlässige Quellen wiedergegeben wurden und werden. Daniel Ender schreibt in seiner insgesamt sehr differenzierten und interessante Rezension, ich hätte die autoritäre Seite des persönlichen Verhältnisses tendenziell beschönigt. Aber was lässt ihn zu diesem Schluss kommen, wenn zuvor keine primären oder verlässlichen Quellen bekannt waren?
Ich begann meine Recherche ausgehend vom oft gezeichneten Bild des autoritären, ja, diktatorischen Übervaters, der seinen Sohn angeblich schlecht behandelt und vehement versucht haben soll, ihm eine Laufbahn als Musiker zu verwehren. Dass Kleibers Schwester dies ganz anders darstellte, reichte angesichts ihrer persönlichen Nähe zu Vater und Bruder nicht aus, um die gängigen Ansichten zu widerlegen. Doch andere, wirklich enge Vertraute von Carlos Kleiber hatten ebensowenig den Eindruck eines schlechten Vater-Sohn-Verhältnisses. Erhellend waren die zahlreichen persönlichen Dokumente, die ich einsehen konnte. Erich Kleiber erscheint darin als ein Mann, der unter der Trennung von seiner Familie litt und sich stets um das Wohlergehen seiner Frau und Kinder sorgte. Deren Zukunft lag ihm besonders am Herzen. Die musikalische Entwicklung von Carlos behinderte er allenfalls durch das ihm und seiner Familie nach der Emigration auferlegte Wanderleben. Er förderte die Musikalität seines Sohnes, respektierte durchaus auch dessen Wunsch, Musiker zu werden, sah aber klar die Gefahren einer nicht abwägbaren Zukunft als Musiker.So bestand er darauf, dass Carlos in unsicheren Zeiten einen sicheren Beruf erlernen sollte, ohne letztlich eine musikalische Laufbahn für ihn auszuschließen.
In meinem Buch habe ich diese doch sehr spannende Geschichte differenziert dargelegt, auch, dass gewisse schriftliche Äußerungen des Vaters, zitiert in Russels Biografie, nebst ironischen Bemerkungen von Carlos selbst gegenüber Bekannten schlicht falsch ausgelegt wurden. Erich Kleiber war ein passionierter Briefeschreiber, der seinen virtuosen Stil mit viel Ironie würzte. Auch hier wird das Erbe und der Einfluss des Vaters auf Carlos spürbar, der schon als Jugendlicher köstliche Briefe verfasste. Wie Vater und Sohn miteinander oder mit anderen übereinander korrespondierten, lässt auf ein gutes, vertrauensvolles, geistesverwandtes und auf gegenseitiger Liebe beruhendes Verhältnis schließen. Dass der Vater seinem Kind dennoch und in Zeiten eines gänzlich anderen Ideals von Erziehung eine sehr strenge angedeihen ließ, sicher auch impulsiv reagieren konnte und es Konflikte gab, steht dabei außer Frage. Dass diese sich aber eben nicht zuspitzten, als Carlos sein vom Vater gewünschtes Chemiestudium antreten sollte oder es beendete, kaum dass er es begonnen hatte, sondern als er im anschließenden, vom Vater organisierten und tatkräftig gefördertem Musikstudium schlenderte, widerlegt alleine schon Legenden.
Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass Carlos nicht unter einem diktatorischen Vater litt, sondern nachhaltig unter dem defizitären Familienleben seiner Kindheit mit ständigen Ortswechseln, unter Gängeleien von Kindermädchen und den ungeliebten Internaten, in denen er so viele Jahre verbrachte und familiäre Geborgenheit vermisste. Dies beeinflusste sein ganzes Leben und nicht allein das private maßgeblich. Denn ein unstetes, heimatloses Dasein, von einem Pult zum anderen, ohne Zeit für die Familie, wie es ihm sein Vater zwangsweise vorlebte, wollte er nicht führen. Künstlerisch indessen eiferte er ihm nach, erkor ihn aus tiefer Überzeugung zu seinem Idol, machte ihn zum Maßstab für seine eigene Kunst. Hier scheint der zuweilen unerreichbar scheinende Übervater durch, dessen Erfahrungen ihn zudem schon früh mit den bitteren Seiten der Musikszene und den Folgen ihrer Intrigen vertraut machten.
Man sollte sehr fein differenzieren zwischen dem Vater-Sohn-Verhältnis und der Wirkung Erich Kleibers auf Carlos als künstlerisches Idol. Mir lag daran, dieses legendenumwobene Verhältnis einschließlich des weitgehend unbekannten Lebenswegs des jungen Carlos Kleiber endlich wahrhaftig jenseits der Legenden zu erforschen und darzustellen. Und wenn tatsächlich nun vieles in ganz neuem Licht erscheint, so wird dabei noch deutlicher als zuvor, dass, um einen Zugang zum Verständnis von Carlos Kleiber persönlich und künstlerisch zu gewinnen, kein Weg an seinem Vater, an seiner Kindheit und Jugend, vorbeiführt.