Neuer Beitrag: Liselotte Tietjens Erinnerungen - von Alexander Werner

Eye-Shopping und zerstörte Träume

in Japanese translation


Heinz Tietjens Witwe Liselott über ihren Mann und ihre Bekanntschaft mit Erich, Ruth und Carlos Kleiber

Jahrzehnte sind vergangen, seit Liselot Tietjen als Solotänzerin an der Berliner Staatsoper in Berlin engagiert war. Dort lernte sie in den 20er-Jahren nicht nur ihren späteren Mann Heinz Tietjen kennen, sondern auch Erich Kleiber, den Generalmusikdirektor der Staatsoper unter den Linden, und dessen Frau Ruth. Erstaunlich frisch und lebendig sind die Erinnerungen der alten Dame, die im August 2009 ihren 98. Geburtstag feierte. Erich Kleiber erlebte sie persönlich und bei der Arbeit nicht nur in Berlin, sondern auch bei Gastspielreisen, auf denen sie Heinz Tietjen begleitete. Tietjen leitete die Staatsoper ab 1926, wurde 1927 Generalintendant aller preußischen Staatstheater und 1931 künstlerischer Leiter des Bayreuther Festspiele. Gerade bei diesen Reisen kamen sich Liselot Tietjen und Ruth Kleiber, die Mutter des später weltweit gefeierten Dirigenten Carlos Kleiber, nahe. Sie waren damals oft zusammen, wohnten im gleichen Hotel, bummelten durch die Städte, besuchten Museen und schauten sich oft gebannt gemeinsam die Proben und Aufführungen der beiden Dirigenten an.

Von Pultstars, so sagt Liselot Tietjen, sei damals gar keine Rede gewesen. Ob Kleiber, Tietjen oder Leo Blech, das seien einfach großartige Dirigenten gewesen, denen es nicht allein um den großen Abend und den Erfolg ging, sondern auch um die Arbeit mit dem Orchester. Sie leisteten viel gemeinsam mit dem Orchester, weil sie es selbst erzogen. Das ist das Geheimnis eines großen Orchesters, seines Klangs und seines Spiels. Ein Dirigent erreicht nur, was er sich vorstellt, wenn das Orchester auf ihn eingeht und auf ihn einwirkt. Das verstanden und wollten diese großen Dirigenten. Sie konnten so auch alles aus den Musikern herausholen und waren stolz auf sie. Heute ist das leider meist anders. Die Dirigenten fliegen irgendwohin, machen ein paar Proben und dann geht`s los auf Kosten der Kunst. Das gute Verhältnis der beiden Männer, die sich gegenseitig sehr schätzten, förderte die persönlichen Kontakte. Konkurrenz oder gar Neid erkannte Liselot Tietjen zwischen ihnen nicht. Auch die Liebe zu Richard Wagner und  Richard Strauss, mit dem beide eng befreundet waren, verband Kleiber und Tietjen. In ihrem Wesen unterschieden sie sich gänzlich von Wilhelm Furtwängler, der immer schwierig war, niemand neben sich haben wollte. Als Karajans als neuer Stern am Pult auftauchte, war ihm das nicht recht, während sich andere, schon wenn sie älter wurden, um Nachwuchs kümmerten. Furtwängler tat das nicht.

 


Kleiber und Tietjen waren eher unpolitische Männer, die nur für die Kunst leben wollten. Und doch war es die Politik, die ihr Leben veränderte und ihre Wege trennte. Während Erich Kleiber kompromisslos in die Emigration ging, als er das wahre Denken der Nationalsozialisten durchschaute, blieb Tietjen in Berlin. Vergeblich versuchte Kleiber, Tietjen noch zu bewegen, ihm nach Argentinien zu folgen, wo er bereits seit 1926 am berühmten Teatro Colón saisonal engagiert war. Kleiber kam mit einem Angebot aus Buenos Aires, dort mit ihm eine Oper wie unsere Staatsoper aufzubauen, erinnert sich Liselot Tietjen, doch mein Mann wollte seine Musiker und das ganze Personal nicht im Stich lassen. Er hing zu sehr an seiner Oper. Kleiber verließ uns enttäuscht.


Wenngleich Tietjen, der bedeutendste Intendant und Regisseur einer ganzen Epoche deutscher Musikgeschichte, nach dem Krieg im einem Entnazifizierungsverfahren vollständig entlastet wurde, blieb seine Rolle im Dritten Reich umstritten. Einschätzungen, Tietjen sei zweifellos ein Steigbügelhalter der Nazis gewesen, sind aber nicht mehr haltbar. Vielmehr betrieb er offensichtlich ein gefährliches Doppelspiel, half vielen Menschen und rettete Leben dank seines intelligenten politischen Taktierens und geschickten Lavierens. Auch den Widerstand unterstützte er. Liselot Tietjen sah gerade im Willen ihres Mannes, sich gegen die Nazis zu wehren, einen Grund für sein Bleiben. Wie viele damals im Geheimen gekämpft haben, wurde erst später bekannt. Für uns war es eine aufregende und furchtbare Zeit. Wir hatten einen Hinterausgang, für den Fall, dass man ihn abholen wollte.  Als Künstler, so sagt sie, habe Tietjen in der Nazi-Zeit gelitten. Eine Tragik, dass die gerade kam, als er sich auf dem Höhepunkt befand, seine Ziele verwirklicht hatte und sich dazu sein größter Traum erfüllte, in Bayreuth am Pult zu stehen. Das war bitter für ihn. Er war darüber tottraurig.


Für den 1890 geborenen Erich Kleiber dagegen begannen nach einer eindrucksvollen Karriere 1935 ruhelose Wanderjahre. Seine Tragik bleibt, dass Krieg, Emigration, Intrigen und Ressentiments in Nachkriegsdeutschland und österreich und sein früher Tod 1956 ihm die Erfüllung seiner Wünsche und einen wirklich angemessenen Nachruhm versagten. Kleiber und Tietjen trafen sich nach dem Krieg wieder. Liselot und Heinz Tietjen hatten mit ihrer Heirat bis nach dem Krieg gewartet und verlegten dann ihren Hauptwohnsitz nach Baden-Baden. Kleiber erholte sich gerne alleine oder mit seiner Frau Ruth im Schwarzwald als Gast des nahegelegen Schlosshotels Bühlerhöhe. Mal besuchten Tietjens die Kleibers im Hotel oder diese kamen nach Baden-Baden. Besonders in Erinnerung behielt Liselot Tietjen einen Besuch Kleibers, bei dem er mit ihrem Mann über die für 1955 geplante Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper sprach. Für den Wiener Kleiber, der in seinem geliebten Österreich immer mit Ressentiments zu kämpfen hatte und dort musikalisch nie Fuß fassen konnte, eine zutiefst deprimierende Erfahrung. Denn seine Hoffnungen, die Wiener Oper zu übernehmen, zerplatzten im Strudel der Wiener Intrigen.


In Baden-Baden sprachen die beiden Männer stets über Kunst, Musik, nie über Politik. Liselot Tietjen verwunderte es nicht, dass über Privates nicht geredet wurde. Schon früher hatte Kleiber sein Privatleben abgeschirmt und seine Emotionen verborgen. In Baden-Baden wollte ich ihn einmal zum Bahnhof bringen. Das nahm er gerne an, nicht aber als ich herzlich von ihm Abschied nehmen wollte. ,Nein, nein, nein´, winkte er ab.  Abschied liebte er nicht. Mir schien, dass er sich gegen Gefühle wehrte, dass er niemanden nahe an sich heranlassen wollte. Liselot Tietjen vermutete, dies könne mit Kleibers schwieriger Jugend nach dem frühen Tod seiner Eltern zusammenhängen. Doch so zurückhaltend, ja manchmal zurückweisend er manchmal wirkte, so war er doch immer überaus höflich und freundlich, ganz sicher ein sehr ordentlicher, netter und wohl auch warmherziger Mann. Ich weiß noch, dass er später in Ostberlin, wo er nach dem Krieg dirigierte, mit den Taschen voller Münzen am Heiligabend durch die Stadt lief und Geld an arme Menschen verschenkte. Nie jedenfalls hatte sie den Eindruck, Kleiber könne ein herzloser, diktatorischer Mann sein, wie das später zuweilen kolportiert wurde, weder privat noch bei seiner Arbeit. Mit dem Orchester war er gewiss sehr streng, sehr energisch, verlangte viel und ließ nichts durchgehen. Aber das war auch richtig so, und die Musiker nahmen das gerne an. Sie lernten dadurch viel und haben ihn sehr geschätzt.


Auch an emotionalen Tiefen seiner Ehe wollte Erich Kleiber die Öffentlichkeit und selbst gute Bekannte wie Tietjens nicht teilhaben lassen. Dennoch zweifelte Liselot Tietjen nicht am Familienglück. Mir schien es eine sehr schöne Ehe zu sein. Ruth liebte ihn über alles, pflegte ihn aufopfernd, sorgte sich um ihn so sehr, dass es ihm manchmal etwas zu viel wurde. Sein Tod muss sie fürchterlich mitgenommen haben. Sie schickte mir damals einen Brief mit einem Foto ihres Mannes mit gefalteten Händen auf dem Totenbett.


Dank der Gastspielreisen hatte Liselot Tietjen Ruth Kleiber gut kennengelernt. Sie war hübsch, immer sehr gut angezogen, ohne auf große Eleganz wert zu legen. Sie war überhaupt nicht eingebildet, eine sehr liebe, natürliche und in ihrer ganzen Art bescheidene Frau. Sie rief mich oft an morgens, wenn wir unterwegs waren und fragte: ,Wollen wir Eye-Shopping machen?´ Sie sah sich gern alles an, ohne etwas zu kaufen.
Ihr Geld investierte Ruth Kleiber damals lieber in Reisen. Der Gesandte Günter Henle hatte Kleiber mit der gebürtigen Kalifornierin 1926 in Buenos Aires bekannt gemacht, wo sie als Angestellte der amerikanischen Botschaft arbeitete. Geheiratet wurde bald darauf in Berlin . Ruths Familie lebte in den USA, und wann immer es möglich war, reiste sie in ihre Heimat. Wo ist denn Ihre Frau? Ich habe sie seit zwei Tagen nicht mehr gesehen., fragte Liselot Tietjen Kleiber einmal in Mailand. Kleiber antwortete: Sie ist schnell zu ihrem Zahnarzt nach New York geflogen. Ruth Kleiber liebte es zu fliegen, ganz im Gegensatz zu ihrem Mann, der lieber lange Dampferfahrten in Kauf nahm. Als die neuen Jets aufkamen, musste sie das unbedingt sofort ausprobieren, erinnert sich Liselot Tietjen. Sie flog furchtbar gern, selten mit ihm, meist voraus. Und Erich Kleiber hatte noch eine andere Sorge: Wer würde sich um seinen Sohn kümmern, wenn die Eltern auf einem Flug abstürzen würden?


Dass Ruth ihren Zahnarztbesuch in den USA weder angekündigt noch später davon erzählt hat, erschien Liselot Tietjen zwar merkwürdig, doch auch Ruth konnte zuweilen verschlossen sein. Seltsam aber, dass Liselot Tietjen weder Erich noch Ruth Kleiber je mit ihrem Sohn Carlos oder der zwei Jahre älteren Tochter Veronika sah. Und noch merkwürdiger, dass sie von der Existenz der Tochter bis heute nichts wusste. Von einer Tochter war nie die Rede, die Mutter sprach immer nur von ihrem Sohn ... immer nur der Sohn, der Sohn, der Sohn ... Dass die Eltern auch ihre Tochter innig liebten, davon zeugen Briefe Erich und Ruth Kleibers, doch der Sohn ging vor. Carlos begegnete mir nie, nicht als Kind, als er wohl von Kindermädchen betreut wurde, und auch später nicht bei Besuchen seiner Eltern in Baden-Baden. Um so überraschter war die Frau, als sie von Carlos in den späten 60er-Jahren einen Brief erhielt. Heinz Tietjen war 1967 im Alter von 86 Jahren in Baden-Baden gestorben und Carlos Kleiber bereitete sich an der Württembergischen Staatsoper auf seine erste Wagner-Aufführungen vor: Tristan und Isolde. Carlos war damals in Stuttgart engagiert und fragte mich, ob ich noch Partituren oder Klavierauszüge Wagners von Heinz besäße. Die hatte ich jedoch schon an die Akademie der Künste gegeben.  Er schrieb, er wolle dort wieder anknüpfen, dort weitermachen, wo sein Vater und Tietjen aufgehört haben. Das erstaunte mich sehr, da er ja selbst bereits ein bekannter Dirigent war.


Zugleich freute sich Liselot Tietjen über die Wertschätzung des jungen Kleiber für ihren Mann. Ihr fiel wieder ein, wie Ruth Kleiber ihr erzählt hatte, dass ihr Mann zuerst gegen Carlos` Wunsch gewesen sei, Dirigent zu werden. Falls er nicht so gut würde wie er oder andere große Kollegen, hätte das ja gar keinen Zweck, habe er gesagt. Sie aber wollte es ihrem Sohn ermöglich. Das aber sei ganz am Anfang gewesen, als Carlos noch sehr jung war. Dass der Vater ihn später unterstützte, leuchtet ein.


Tratsch, Intrigen und Gerüchte kümmerten Liselot Tietjen nie. Anhaltpunkte dafür, dass Carlos Kleiber womöglich nicht der Sohn Erichs, sondern der des Komponisten Alban Berg sein könnte, findet sie nicht. Bei der nebulösen Geschichte von einer angeblichen Affäre Bergs mit Ruth Kleiber, aus der womöglich Carlos hervorgegangen sein soll, schüttelt sie den Kopf. Ich kann es mir nicht vorstellen. Ruth Kleiber liebte und lebte nur für ihren Mann.

Alexander Werner,
nach einem Gespräch mit Liselot Tietjen, Sommer 2009

 

Mehr zu Liselot Tietjen in meinem Beitrag

Glück und Tragik eines Künstlerlebens

Liselot Tietjen über ihr Leben, ihren Mann Heinz und ihre Zeit in Berlin und Baden-Baden

auf meiner Homepage www.alexander-werner.org (open Site and Text)