Hintergründe zur Entstehung des Buchs Carlos Kleiber. Eine Biografie

 

Auf den Spuren von Carlos Kleiber

 

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Wie und warum schreibt man eine Biografie über einen Künstler wie Carlos Kleiber, über den so wenig bekannt ist und der sich gänzlich der Öffentlichkeit verweigerte? Diese Frage begegnete mir in den vergangenen Jahren häufig. Nun dachte ich ursprünglich gar nicht daran, solch ein Projekt anzugehen. Die Idee reifte, als ich in den 90er-Jahren intensiv nach unbekannten Aufnahmen von Carlos Kleiber forschte und versuchte, möglichst lückenlos seine Aufführungen und Rundfunkengagements zu dokumentieren. Ich bemühte mich auch, dem japanischen Kleiber-Fan Toru Hirasawa zu helfen, seine Internet-Liste von Kleibers Aufführungen zu ergänzen und zu korrigieren.

 

In diesen Jahren sammelte sich bereits so viel Material bei mir an, dass ich mit dem Gedanken spielte, eine Biografie über Kleiber zu wagen. Als ich gewahr wurde, wie wenig über den Dirigenten trotz seiner Berühmtheit wirklich bekannt war, erhöhte sich der Reiz dieser Aufgabe noch beträchtlich. Ich machte mir keine Illusionen darüber, dass er selbst, zumindest zu diesem Zeitpunkt, kaum dafür zu gewinnen war. Eine ganze Reihe von Kollegen und Publizisten hielten es gerade aus diesem Grund für unmöglich, eine Biografie über Kleiber zu verfassen, und gaben auf. Doch sollte deswegen nie etwas über Kleiber geschrieben werden? Angesichts seiner eminenten musikalischen Bedeutung erschien mir die Vision eines in Vergessenheit geratenden Kleiber geradezu fatal.

 

Als ich dann begann, systematisch zu recherchieren, wurde mir schnell bewusst, wie viel Zeit und welche Energie ich dafür aufbringen musste, Materialien zu sammeln, Korrespondenz ausfindig zu machen, Archive auszuwerten und mit Zeitzeugen zu sprechen. Allein diese aufzuspüren war immens schwierig, extrem zeitaufwendig und oft auch enttäuschend, etwa wenn sich nach langwieriger Suche ergab, dass eine Person nicht auffindbar, längst oder gar erst kürzlich verstorben war. Schon nach den ersten Interviews kristallisierte sich heraus, dass es wenig Sinn machte, nur ausgewählte, vermeintlich besonders ergiebige Zeitzeugen anzusprechen, sondern möglichst viele zu befragen, alle Aussagen kritisch zu beleuchten und mit anderen abzustimmen, um dann aus dem riesigen Berg von Informationen, der zwei Bände hätte füllen können, das Wesentliche zu filtern und schlüssig zu kombinieren. Dank der erweiterten Recherche gelang es mir, auch unerwartet auf Menschen zu stoßen, deren enge Beziehung zu Kleiber mir zuvor völlig unbekannt war oder die mir wertvolle Hinweise gaben. Die Recherche von Kleibers weitgehend rätselhafter Kindheit und Jugend nebst der von Legenden umwobenen Beziehung zu seinem Vater Erich Kleiber forderte mich auf besondere Weise und ließ mich zuweilen fast verzweifeln, bis sich auch hier das Dunkel lichtete und scheinbar Unergründbares zu Tage trat.

 

Mein Ziel blieb, ein möglichst rundes, lebendiges Porträt von Kleiber auch über sogenannte O-Töne entstehen zu lassen, mich als Autor nicht allzu penetrant aufzudrängen und dem Leser keine festgezurrten Erkenntnisse vorzusetzen. Nicht belegbare Behauptungen habe ich vermieden. Ebenso war es für mich Pflicht, bei der Auswahl der Informationen dezent und verantwortungsvoll mit Kleibers Privatsphäre umzugehen. Die vielen, überaus positiven Rückmeldungen auf mein Buch bedeuten für mich eine Bestätigung dieses Ansatzes.

 

Glücklich und dankbar machte mich natürlich, dass nicht nur reine Arbeitskollegen, sondern auch mit Kleiber privat sehr vertraute Menschen offen Auskunft gaben und ich so einen sehr tiefen menschlichen Eindruck von ihm gewinnen konnte. Ebenso erleichtert war ich, dass sich die Rolle einer Reihe vermeintlich unverzichtbarer Zeitzeugen, die teilweise nicht mehr lebten und die sich aus persönlichen Gründen gewiss nie wirklich frei, undiplomatisch und ganz ehrlich geäußert hätten, aus all meinen Interviews (nebst schriftlichen Überlieferungen) mit kritischem Blick gut rekonstruieren ließ. Und selbst wenn Künstler, Musiker, Intendanten oder andere Menschen ihre Erfahrungen mit Kleiber bereits schriftlich, in Rundfunk- oder Fernsehinterviews kundgetan hatten, lag mir viel daran, mit ihnen persönlich zu sprechen, wenn dies möglich war. Neben den Interviews widmete ich mich einer intensiven Zeitschriften-, Zeitungs- und Literaturrecherche, reiste an Wirkungsstätten Kleibers und besuchte Archive, leider nicht immer mit dem erhofften Erfolg. So erhielt ich keine Genehmigung, mögliche Stasi-Akten einzusehen, die angesichts des Engagements von Erich Kleiber in Ost-Berlin in den 50er-Jahren sowie seines Sohnes in Potsdam eigentlich existieren oder existiert haben müssten. Dafür aber konnte ich andere höchst interessante und aufschlussreiche Dokumente einsehen oder in Kopie bekommen.

 

Als ich mich im Winter 2003 entschloss, mich im fortgeschrittenen Stadium meiner Recherchen an Carlos Kleiber zu wenden, erfuhr ich vom überraschenden Tod seiner Frau. Im Frühling 2004 rieten mir dann Bekannte Kleibers, weiterhin zu warten. Da aber nichts auf eine bedrohliche gesundheitliche Verfassung Kleibers hindeutete, überraschte und traf mich die Nachricht von Kleibers Tod im Juli ebenso unerwartet wie alle anderen. Doch die weltweite Resonanz auf seinen Tod konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbst vielen Musikliebhabern der Name Kleiber und seine Bedeutung allenfalls noch beiläufig bekannt waren. Umso mehr wollte ich nun meine Biografie zügig in den kommenden Jahren zu Ende bringen, auch ohne Unterstützung der Familie, abgesehen von einem erquickenden Gespräch mit Kleibers Schwester und sehr ermutigender Kontakte mit seiner Nichte in Slowenien. Wenngleich ich so leider keinen Zugang zum Familienarchiv erhielt, konnte ich dennoch auf eine große Zahl weiterer primärer und unverzichtbarer Quellen zurückgreifen, etwa der Korrespondenz von Erich, Carlos und Ruth Kleiber. Die Auswertung zahlreicher Briefe aus allen Lebensphasen, die mir von den verschiedensten Seiten freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurden, erwies sich von unschätzbarem Wert nicht alleine für die Rekonstruktion des Lebenswegs, sondern auch um einen persönlichen Zugang sowohl zu Carlos als auch zu Erich Kleiber zu finden. Nicht wenig erstaunte mich, wie frei, ehrlich und unverblümt sich Carlos Kleiber selbst in den von ihm so geschätzten offenen Postkarten äußerte. Ergänzend hinzu kamen Briefe an Kleiber oder Korrespondenzen anderer Personen über Kleiber zum Umfeld von erstrebten oder erfolgreichen Engagements oder ganz anderer Vorgänge. Ein besonderer, singulärer Fund war Kleibers einzig belegtes, überliefertes und bis dato unbekanntes und verschollenes Interview aus dem Jahr 1960.

 

Bei der Konzeption meines Buches hatte ich eine möglichst breite musikalisch interessierte Leserschaft im Blick. So wollte ich mich nicht in fachspezifische musikalische Erörterungen oder Analysen vertiefen, die eher Stoff für eine an ein spezielles Fachpublikum gerichtete wissenschaftliche Arbeit wären. Nichtsdestotrotz lag mir ganz wesentlich daran, Kleibers Arbeitsweise von den ersten Partiturstudien bis zur vollendeten Aufführung und das Außergewöhnliche seiner Intentionen, seiner Arbeit und Vorgehensweise, seiner Interpretationen und seines Stils darzulegen. Ich entschied mich, dies nicht en bloc in Form eigener Kapitel zu tun, sondern am praktischen Beispiel über das ganze Manuskript zu streuen, zu erläutern und auch mit Äußerungen aus Interviews lebendig und anschaulich zu gestalten. Begleitende Zitate aus Zeitungen und Magazinen sollten auch die doch sehr spannende und facettenreiche Resonanz der Presse auf Kleibers so divergent bewertete Arbeitsweise und schwer fassbare Persönlichkeit im Lauf der Jahrzehnte beleuchten. Was den Stil des Buches betrifft, das möglichst fließend verständlich bleiben sollte, mied ich eine unnötig komplizierende Sprache ebenso wie essayistische oder literarische Formen. Dass das Leben von Carlos Kleiber reichlich Stoff für einen fesselnden Roman liefern würde, steht dabei außer Frage.

 

Gerade wegen meiner eigenen persönlichen Affinität zu den Dirigenten Carlos und Erich Kleiber sowie meines Interesses und der während meiner Arbeit wachsenden Verquickung mit deren Leben, bemühte ich mich besonders, den objektiven und an wissenschaftlichen Vorgehensweisen orientierten Blick zu bewahren, selbstverständlich auch im Umgang mit den vielen Quellen. Keinesfalls lag mir daran, vielleicht sogar unbewusst, ein mögliches Wunschergebnis der Recherche am Ende als deren Ergebnis zu präsentieren. So erwartete ich anfangs angesichts der vielen Berichte über den unberechenbaren, schwierigen, exzentrischen, willkürlich agierenden Kleiber eher selber, letztlich ein weitaus kritischeres Porträt zu zeichnen. Dass sich im Verlauf meiner Recherche indessen unbestreitbar und belegbar das Bild eines Menschen entwickelte, der sich zutiefst und ehrlich der Musik verpflichtet fühlte, wodurch sein so häufig missgedeutetes Verhalten verständlich und relativiert wird, war objektiv zwangsläufig.

 Alexander Werner