Auf den Spuren eines musikalischen Genies
mit Eindrücken von einer Reise nach Slowenien
Ein Beitrag von ALEXANDER WERNER
für die Zeitschrift
Ongaku no Tomo Sha (Tokyo) Ausgabe 7/Juli 2010
im Vorfeld
der Buchveröffentlichung:
Alexander Werner: "Carlos Kleiber. Eine Biografie",
Japan Edition/Teil 2
Download des originalen Beitrags in Japanisch
Originaltext in Deutsch
Auf den Spuren eines musikalischen Genies
Ruhm und die Größe des legendären Carlos Kleiber strahlen über seinen Tod hinaus
Was mag in Carlos Kleiber vorgegangen sein, als er am 11. Juli 2004 sein Haus in Grünwald bei München verließ, sich ans Steuer seines Audi A8 setzte und zum letzten Mal nach Slowenien fuhr? Zog noch einmal sein bewegtes Leben im Geist an ihm vorüber, seine einzigartige und eigenartige Karriere, die ihn zum gefeierten, begehrtesten und vermeintlich schwierigsten Dirigenten des ausgehenden 20 Jahrhunderts machte?
Gewiss dachte der 74-Jährige an seine Familie, an seine Kinder und seine Frau Stanka, die ein halbes Jahr zuvor unerwartet verstorben war. Ein Schicksalsschlag, von dem er sich nicht er-holte. Zwei Tage später, am 13. Juli 2004, wurde der geniale Dirigent, dem Ruhm nie etwas bedeutete, tot in seinem Ferienhaus in Konjsica aufgefunden. Einmal mehr gab Kleiber, der andere selten an seinem Innersten teilhaben ließ, der Welt mit seinem völlig überraschenden Tod Rätsel auf.
Seit er 1961 die die Ballett-Tänzerin Stanislava Brezovar aus Zagorje geheiratet hatte, war ihm die idyllische Landschaft am Fluss Sava zur zweiten Heimat geworden. Bei Stankas Familie fühlte er sich geboren und unbehelligt.
All das ging mir durch den Sinn, als im August 2008 die letzte Etappe im Leben Carlos Kleibers auf mich einwirken ließ. Über viele Jahre hatte ich mich mit ihm beschäftigt, ja, mich geradezu in ihn hineingegraben. Kleibers Nichte Brigita Drnovek geleitete mich von Ljubljana nach Konjica. Wenige kannten Carlos so gut wie die prominente Ärztin. Seit ihrer Kindheit hatte sie viel Zeit mit ihm verbracht. Auf dem malerischen Weg durch bewaldete Hügel erzählte sie mir viel über Carlos, den zeitlebens keiner so richtig verstand. Über seine Jugend habe er gesprochen, über die ungeliebten strengen Internate, beklagt, wie unglücklich er dort gewesen sei und wie wenig Zeit er mit seinen Eltern verbringen durfte. Aber auch, wie witzig er sein konnte, berichtetet sie, wie charmant und lebensfroh, wie bescheiden und unkompliziert und mit welche Freude sie mit diesem hoch intelligenten Mann parlierte.
Nach einer Stunde bogen wir ab, bergauf eine schmale Straße, hin zu einem winzigen Dorf: Konjsica, herausgeputzt, schmuck, aber das noch nicht sehr lange. Berühmt ist Konjsica geworden seit Kleibers Tod, fast ein Denkmal für den Dirigenten, kein Wallfahrtsort für Tausende, aber einer, zu dem seitdem regelmäßig Bewunderer pilgern. Die Einheimischen sind stolz, dass dieser bedeutende Mann einer der ihren wurde und freuen sich über die Besucher. Die kommen sogar aus dem fernen Japan. Manchmal bereitet die Sprache etwas Probleme, doch Kleiber auf den Lippen und ein paar Handzeichen führen schnell zu dem beschaulichen Friedhof neben der Kirche. Ein schlichtes Grab, ein Stein aus weißem Marmor, oben in Gold der Name Stankas, darunter Carlos, davor frische Blumen.
Bewegt verharrte ich vor der letzten Ruhestätte dieses Mannes. Ein Moment der Besinnung, jedoch keiner der Trauer. Ich spürte Dankbarkeit für diesen Menschen, der nicht nur mir so viel gegeben hatte. Seine Musik erklang in meinem Kopf und unwillkürlich fielen mir die erhebenden Worte von Carlos` japanischem Freund Tadatsugu Sasaki ein: Ich glaube, dass Kunst und Kultur wie Wasser und Luft sind, aber bei Carlos Kleibers Musik fühle ich, wenn man von ihr berührt wird, freut man sich, am Leben zu sein.
Im Kleiber-Gedenkhäuschen neben der Kirche betrachteten wir Filmausschnitte von seinen umjubelten Auftritten. Die bedeutendsten Orchester und an den großen Häusern der Welt, in Wien, Mailand, New York, London und auch mehrfach in Japan hatte er dirigiert. Viel mehr drang über Kleiber, der sich hartnäckig der Öffentlichkeit verweigerte, kaum jemals nach Außen. Viele biographische Versuche scheiterten daran.
Künstlerisch wie menschlich galt Kleiber als unergründliches Phänomen. Umso mehr wurden Gerüchte ausgeschlachtet, wurde über sein angeblich unberechenbares, exzentrisches Wesen spekuliert und stets über sein Verhältnis zu seinem Vater Erich Kleiber.
Dennoch war ich davon überzeugt, Licht in das Dunkel bringen zu können, als ich mich ent-schloss, eine große Biografie über Kleiber zu wagen. Auch, dass er mich seit vielen Jahren selbst faszinierte, gab mir die Kraft und Ausdauer dazu. In jüngeren Jahren hatte ich mich intensiv mit Dirigenten befasst, war begeistert von Erich Kleiber und spontan gefesselt, als ich die ersten Platten seines Sohnes Carlos in die Hände bekam. Da Kleiber sich immer mehr zurückzog und Plattenstudios mied, suchte ich weltweit nach Konzertmitschnitten. Diese Recherche ging Ende der 90er-Jahre fast wie von selbst über in diejenige für mein Buch.
Bei all den Mühen war ich glücklich, so unglaublich viel über ihn in Erfahrung zu bringen und in sein Denken und Fühlen vorzudringen, über zahllose Interviews mit Freunden, Verwandten und Weggefährten, das Studium von Hunderten von Briefen, Archivmaterialien und anderen Dokumenten.
Was Kleiber als Künstler auszeichnete, war sein überragendes Naturtalent. Das wollte sich entfalten und wurde früh vom Vater Erich Kleiber in dem Willen geformt, Mittelmäßigkeit niemals zu dulden. Dafür bedurfte es Idealismus und harter Arbeit. Ohne Rückschlüsse auf seine Jugend und seinen Vater, den er sehr verehrte, ist Carlos kaum zu fassen. Deswegen lag mir viel daran, endlich das sagenumwobene Verhältnis der beiden zu entschlüsseln. Dank fundierter Quellen gelang es mir, die Geschichten vom grausamen Übervater, der seinen Sohn mit aller Gewalt vom Dirigentenberuf fernhalten wollte, ins Reich der Legenden zu verwei-sen. Unbestreitbar aber wandelte Carlos auf den Spuren seines geliebten Vaters und erkor ihn bei allem Bewusstsein für die eigene Größe zum Vorbild.
Carlos studierte und korrigierte Partituren akribisch und frischte sie mit seinen Einzeichnungen auf. Er besaß ein geniales Gespür für Rhythmik und Präzision, für packende Tempi und poetische Tiefe. Die Werke im Sinn ihrer Schöpfer erklingen zu lassen, das war Kleibers in-nerstes Bedürfnis. Dafür lebte, arbeitete und kämpfte er hartnäckig gegen die Routine des Opern- und Konzertalltags, die ihn letztlich zermürbte. Oft verzweifelte er fast darüber, dieses ihm vorschwebende Ideal, das ihn zum einzig wirklich schöpferischen Dirigenten seit Gustav Mahler machte, zu erreichen. Es erklärt auch seine so oft missverstandenen oder als Eskapaden verschrienen Verhaltensweisen und seinen langsamen Rückzug.
Kleiber war äußerst intelligent, empfindlich, lebenslustig, freidenkend, perfektionistisch und selbstkritisch, einer, der auch von anderen alles abforderte. So tat er sich schwer mit verkrusteten Abläufen und nicht zuletzt, im fortschreitenden Alter, mit dem Leben überhaupt. Ohne sein sprühendes Temperament, seine oft schier unerschöpfliche Energie, seine Spontaneität, seine enorme persönliche Ausstrahlung, seine Fähigkeit, Musiker zu Höchstleistungen zu in-spirieren, ohne seine imposante Erscheinung und seinen ästhetischen Dirigierstil, hätte er nicht diese außergewöhnliche Wirkung am Pult erzielt.
Das Tempo, das Kleiber vorlegte und seine Intensität resultierten aus dem Feuer, das in ihm loderte, und aus den Spannungen, die sich in den Aufführungen elektrisierend lösten. Ein genialer Musiker, der oft gehörte Werke ganz neu erklingen ließ und Menschen in Ekstase versetzte. Wie jedoch die Musik in Kleibers Kopf ideal geklungen hat, das mag ein wirkliches Phänomen sein und wird auf ewig sein Geheimnis bleiben.
Als ich mich damals 2008 von Kleibers Nichte Brigita verabschiedete, bestätigte sie mich nachdrücklich in meinem Empfinden, Carlos Kleiber in meinem Buch sehr nahe gekommen zu sein. So freute ich mich auch sehr, als sie mich kürzlich bat, für das Gedenkkonzert zu Carlos Kleibers 80. Geburtstag mit den Wiener Philharmonikern und Riccardo Muti einen begleitenden Text für das Programmheft zu schreiben. Dieses Konzert Ende Juni in Ljubljana steht gewiss beispielhaft dafür, dass Carlos Kleiber kaum jemals in Vergessenheit geraten wird, sondern weiterlebt.
Alexander Werner,
Autor von Carlos Kleiber. Eine Biografie.