Die schilldernde und leidvolle Karriere eines musikalischen Genies

Ein Beitrag zum Booklet des Gedenkonzerts zum 80. Geburtstag von Carlos Kleiber

Carlos Kleiber - Ongaku

 

Ein Beitrag von  ALEXANDER WERNER

für das Booklet zum Gedenkkonzert der Wiener Philharmoniker mit Riccardo Muti zum 80. Geburtstag von Carlos Kleiber am 21.6.2010 in Ljubljana


Booklet-Text von Alexander Werner

 

Download des gedruckten Beitrags in Slowenisch

 

Originaltext in Deutsch

 

Carlos Kleiber


die schillernde und leidvolle Dirigentenkarriere eines musikalischen Genies



Als Carlos Kleiber am 6. Juni 1997 in Ljubljana im Cankarjev Dom dirigierte, bot dies eine der letzten Chancen, den Maestro am Pult zu bewunden. Auf das fesselnde Konzert mit der Slowenischen Philharmonie, das Kleiber seiner Frau Stanka zuliebe gegeben hatte, durfte ganz Slowenien stolz sein.


Längst galt der damals knapp 67-Jährige als lebende Legende, als einzigartiges Phänomen in der klassischen Musikgeschichte mit einer ebenso glanzvollen wie eigentümlichen Karriere. Ab den 70er-Jahren feierte Kleiber Triumphe an den großen Häusern und mit den bedeutendsten Orchestern der Welt, ob in Wien, Bayreuth, München, Berlin, Chicago, Amsterdam, Mailand, London, New York oder auf Tourneen in Japan, ob mit Wozzeck, Tristan und Isolde, Otello, La Bohème oder Rosenkavalier.


Zeitlebens aber stellte dieses scheinbar unnahbare, unergründliche und vermeintlich so schwierige Genie die Musikwelt vor Rätsel. Denn er kämpfte mit der Alltagsroutine der Orchester und des Musiktheaters. Seine unerbittlichen Forderungen bezüglich Proben, Besetzungen, Einsatz und Disziplin lösten immer wieder Krisen aus. Allzu leicht wurde dieser hochintelligente, belesene, sensible und charmante, entwaffnend humorvolle, zuweilen zynische und zornige Mann als exzentrisch missverstanden, seine spektakulären Absagen, seine kuriose und kurze Schallplattengeschichte und seine Verweigerung gegenüber der Öffentlichkeit als Willkür eines begnadeten Paradiesvogels gedeutet. Kleiber jedoch fühlte sich alleine der Musik verpflichtet, stellte extreme Ansprüche an sich selbst und andere, arbeitete akribisch und nahezu besessen daran, jedes Werk im Geiste seines Schöpfers erblühen zu lassen.


Sein Weg zum wohl schillerndsten Pultstar des 20. Jahrhunderts gestaltete sich dornenreich. Geboren wurde Karl Ludwig Bonifacius Kleiber am 3. Juli 1930 als Sohn der Amerikanerin Ruth Goodrich und des genialen österreichischen Dirigenten Erich Kleiber, damals Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper unter den Linden. Nach der Emigration Erich Kleibers 1935 begann für die Familie eine Zeit der Wanderschaft. In Internaten in Europa und ab 1940 in Südamerika vermisste Carlos schmerzlich ein behütetes Familienleben. Umso verständlicher, wie unantastbar ihm später seine private Sphäre galt und wie wertvoll ihm seine Familie wurde, als er 1961 die slowenische Tänzerin Stanislava Brezovar heiratete und mit ihr zwei Kinder hatte.


Sein Vater beobachtete Carlos` dirigentische Ambitionen anfangs mit Sorge. Zu unsicher erschien ihm in den Nachkriegsjahren der Musikerberuf und er wusste, welche Bürde er selbst für Carlos darstellte. Doch Carlos` unbändiger Wille überzeugte ihn bald. Nach nur einem Semester Chemie in Zürich organisierte er für Carlos in Buenos Aires 1950 das Musikstudium. Es folgte das Joch des Korrepetierens, zuerst am Theater in La Plata, dann am Münchner Gärtnerplatztheater, der Wiener Volksoper sowie nach seinem Debüt in Potsdam ab 1957 an der Deutschen Oper am Rhein, wo Carlos ab 1960 endlich als Kapellmeister ein reiches Repertoire dirigierte. Weiter ging es in Zürich, in Stuttgart und München. Kleibers Aufstieg verlief nun rasant. Die Sternstunden indessen begleiteten immer quälende Selbstzweifel, sein inneres Ideal erreichen zu können. Sein Vater blieb bei allem Bewusstsein des eigenen Könnens sein Vorbild.

 

Carlos war stets ein Suchender, entlockte den Partituren ungehörte Schattierungen, schuf faszinierende Bögen und Übergange, faszinierte mit Eleganz, leidenschaftlicher Rasanz und farbiger Poesie, klar, mitreißend dynamisch und schneidend rhythmisch. Orchester wuchsen unter seinen Händen über sich hinaus.
Doch schon Mitte der 70er-Jahre, als er als neuer Stern am Dirigentenhimmel gepriesen wurde, gab es erste Vorzeichen eines langsamen Rückzugs. Carlos, der ab 1972 keine feste Position mehr akzeptierte, machte sich ab 1980 zunehmend rarer und konzentrierte sich auf ein schmales Repertoire. In den 90er-Jahren entfremdete er sich mehr und mehr enttäuscht vom Musikbetrieb. Seinen letzten Opernauftritt hatte er 1994 mit seinem geliebten Rosenkavalier bei einer Japan-Tournee der Wiener Staatsoper. 1999 zog er sich endgültig zurück. Bis zuletzt hoffte die Musikwelt auf ein Comeback dieses Ausnahmedirigenten, der nun allerdings auch unter Alter und Krankheit litt.


Die schockierende Nachricht seines Todes am 13. Juli 2004 in seinem Ferienhaus im slowenischen Konjsica bei Zagorje ob Savi kam dennoch unerwartet. Auf dem kleinen Dorffriedhof fand Carlos neben seiner ein halbes Jahr zuvor verstorbenen Frau Stanka seine letzte Ruhestätte, in einem Land, dass ihm zur zweiten Heimat wurde. Über Jahrzehnte verbrachte er im Kreis der Familie seine Ferien in der abgeschiedenen Bergregion in der Nähe von Ljubljana, die er so liebte. Dort fühlte er sich geborgen. Diese Bindung währt über seinen Tod hinaus an. Nachruhm bedeutete Carlos Kleiber nichts. Aber hätte er sich ein Konzert zu seinem 80. Geburtstag gewünscht, dann gewiss hier in Ljubljana.

Alexander Werner,
Autor des Buches Carlos Kleiber. Eine Biografie, Schott, Mainz