Michael Gielen

Michael Gielen
Die Faszination der neuen Klänge

Alexander Werner im Gespräch mit Michael Gielen über sein Leben und seine Karriere

Interview vom am 6. Februar 2003, Freiburger Konzerthaus

aus Standpunkte Ausgabe Mai 2003

 

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Michael Gielen
Die Faszination der neuen Klänge

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(veröffentlicht 2003-2004 auf www.standunkte.de)

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Mit dem Dirigenten Michael Gielen sprach Alexander Werner auch über Carlos Kleiber

 

Herr Gielen, Sie werden immer wieder zitiert als alter Freund von Carlos Kleiber. Wie eng waren Sie mit ihm befreundet?
Sowohl meine Frau als auch ich waren mit Carlos in den 50er-Jahre in Wien befreundet und ich schon zuvor in Buenos Aires. Unsere Freundschaft war so tief, dass er unser Trauzeuge wurde.

 

Wann haben Sie Carlos Kleiber kennengelernt?
Das war in Buenos Aires. Soweit ich mich erinnere, kam er erst 1949 dorthin. Während des Krieges hatten die Kinder von Erich Kleiber, also Carlos und seine Schwester Veronika, mal in Chile, mal in Argentinien, mal auf Cuba gelebt und in ihrem Landhaus in Cordoba.

 

Wie die Kleibers waren ja auch Sie nach Südamerika emigriert. Und in Buenos Aires kamen Sie auch ganz am Anfang ihrer musikalischen Laufbahn in Kontakt zu Erich Kleiber, den Sie immer als Ihr großes Vorbild bezeichnet haben.
Wir emigrierten im Januar 1940, also meine Mutter, meine Schwester und ich. Wir fuhren mit einem italienischen Schiff nach Argentinien. Die deutschen Spielzeiten, die deutschen Opern am Teatro Colón wurden abwechselnd von Fritz Busch und Erich Kleiber geleitet. Damals hörte ich ihn. Unvergesslich. Erich dirigierte Kleiber einmal für Fritz Busch, als der krank und Kleiber eingeflogen wurde. Er übernahm mit nur einer Orchester-Alleinprobe eine Elektra-Einstudierung. Es gab nur eine einzige Probe, und ich war dabei. Diese Probe war unglaublich. Damals studierte ich bereits. 1948 begann ich als Korrepetitor am Teatro Colón. Kleiber dirigierte damals Tristan und Isolde mit Kirsten Flagstad. Ihre Verständigungsprobe spielte ich. Da war ich noch gar nicht engagiert. Man teilte mir telephonisch mit, der Korrepetitor der Richard Wagner spielen konnte, sei krank geworden und sie hätten gehört, dass der Regisseur Joseph Gielen einen Sohn habe, der sehr viel Klavier spiele und Opern kenne und ob ich mit Tristan vertraut sei. Mein Vater war am Telefon und rief mir zu: Kennst du den ,Tristan? Ich antwortete: Ja, ich habe das oft durchgespielt und traue mich, die Probe zu spielen. Ich spielte damals sehr gut Klavier. Die Probe mit den beiden wurde zu meinem ersten beruflichen Erlebnis.

 

Wirkte Erich Kleiber Kleiber auf Sie so streng, ja, fast diktatorisch, wie man ihm nachsagt?
Streng ja, aber die Musiker liebten ihn. Er verlangte viel, aber das sozusagen gut gelaunt. Und man sah sofort ein, dass das alles, was er verlangte, musikalisch richtig ist.

 

Nicht untypisch für diese Zeit, wirkt Erich Kleiber auf vielen Fotos diszipliniert, körperlich eher gespannt als entspannt, oft wie ein ehernes Monument ...
Er war ein ziemlich kleiner, gedrungener, aber unglaublich beweglicher Mensch. Dirigenten wie er, die nicht sehr groß sind, können die ganze Länge der Arme benutzen. Ein langgewachsener Mann wie Wilhelm Furtwängler konnte das nicht.

 

Es wurde viel über das Verhältnis von Erich Kleiber zu seinem Sohn geschrieben. Angeblich litt er unter seinem Vater. Wie sehen Sie das?
Nun, die beiden Kinder haben es sicher nicht leicht gehabt mit dem Herrn Papa. Andererseits weiß ich, dass sie ihn abgöttisch liebten. Von Veronika weiß ich es verbatim, dass sie ihn sehr geliebt haben. Und Carlos dirigiert ja nur Stücke, von denen er irgendein Dokument vom Vater besaß, sei es ein ganzes Orchestermaterial, eine Aufnahme oder eine Partitur oder, das ist natürlich am Besten, eine vom Vater eingerichtete Partitur. Ich glaube, das war der Grund für seine Gebundenheit, dass sein Repertoire so winzig klein war. Er dirigierte ja nur ganz wenige Stücke.

 

War Carlos Kleiber in seiner Jugend wirklich so zurückhaltend und schüchtern, wie es heißt?
Das weiß ich nicht.

 

Dass er es nicht leicht hatte, verwundert ja nicht angesichts eines so berühmten Vaters mit einer so starken und eigenwilligen Persönlichkeit, der dazu kaum Zeit für seine Familie hatte. Aber wollte der Vater wirklich verhindern, dass sein Sohn seinen Spuren folgt und auch Dirigent wird?
Ich weiß, dass Carlos schon vor 1950, als er noch jung war, zu seinem Vater sagte, er wolle Dirigent werden. Der Vater antwortete angeblich: Ein Kleiber ist genug. Was ja typisch für ihn wäre wenn auch nicht sehr freundlich (lacht). Jedenfalls verdonnerte er ihn dazu, in Zürich Chemie zu studieren. In Zürich machte Carlos wohl alles Mögliche, nur das nicht. Und nach einiger Zeit wiederholte er seinen Standpunkt gegenüber dem Vater, der dann sagte, Ja, an mir soll es nicht liegen.

 

Erich Kleiber ermöglichte also seinem Sohn nun ein Musikstudium?
Ja, Carlos hatte schon zuvor davon gehört, dass ich in Buenos Aires einen hervorragenden Theorielehrer hatte: Erwin Leuchter, eine große Persönlichkeit in Argentinien. Er war auch jahrelang die graue Eminenz des Hauses Ricordi. Er unterrichtete unter anderem Kontrapunkt, ganze Generationen von Musikern. Mein Neffe, gute 20 Jahre jünger als ich, studierte sogar noch bei ihm. Carlos kehrte also von Zürich nach Buenos Aires zurück und besuchte diese Unterrichtsstunden bei Leuchter. Dort lernte er sowohl die fünf Finger auf die Tasten des Klaviers zu legen, wozu er keine Begabung hatte, und Harmonielehre zu lernen, also die Grundlagen, was ihn nicht interessierte, weil seine Musikalität diesen theoretischen Aspekt gar nicht brauchte, weil er verstand, wie Musik organisiert ist.

 

Leuchter war aber nicht sein einziger Lehrer. Leo Schwarz war ein weiterer.
Ja, Leo Schwarz war ein hervorragender Pianist, natürlich auch ein Emigrant. Er gab auch Gesangsstunden. Ich nahm bei ihm einige Gesangsstunden. Er spielte auch mit meinem Schwager Ljerko Spiller.

 

Wissen Sie, ob Carlos Kleiber bereits in Argentinien eine Chance zum Dirigieren erhielt?
Ich glaube nicht, dass es die gab. Ob er in La Plata dirigierte, wo er am Theater korrepetierte, weiß ich nicht.

 

Dann trennten sich ihre Wege vorerst?
Ja, ich wollte ja eigentlich nach New York zu meinem Onkel Eduard Steuermann, um dort Komposition zu studieren, bekam aber kein amerikanisches Visum. So entschloss ich mich, nach Wien zu gehen. Da mein Vater Burgtheaterdirektor war, erreichte er leicht, dass ich an der Wiener Staatsoper eine Anstellung als Korrepetitor bekam. Ich hatte ja schon als Korrepetitor am Colón und mit allen Wiener Sängern in Buenos Aires gearbeitet, eben auch unter Papa Erich Kleiber. Also fuhr ich nach Wien. Bald holte Volksoperndirektor Hermann Juch Carlos in derselben Eigenschaft nach Wien. Damals sahen wir uns oft. Carlos lernte auch meine damalige Freundin und spätere Frau kennen und fand sich regelmäßig am Nachmittag zum Tee oder Kaffee bei uns ein, um nicht so allein zu sein. Wir tranken Kaffee, er eher Tee. In Wien fand er auch Freundinnen und Freunde, bis er dann Herman Juch an die Deutsche Oper am Rhein folgte, wo er dann auch begann anzudirigieren.

Sprachen Sie mit Carlos über seine Arbeit an der Volksoper?
Er korrepetierte dort. Das Repertoire der Volksoper bestand damals hauptsächlich aus Operetten. Ich weiß nicht, wie interessant das für Carlos war. Wir sprachen darüber kaum.

Mit Juchs Nachfolger Franz Salmhofer hatte Carlos dann ja einige Probleme.
Darüber weiß ich nichts. Salmhofer war eine Type, ein aufrechter Anti-Nazi unter den Wiener Musikern. Er hatte bis Kriegsende die Bühnenmusik am Burgtheater verwaltet und lebte davon. Weil er politisch unbelastet war, machte man ihn schließlich zum Operndirektor. Eine fast humoristische Figur.

 

Bevor Carlos Kleiber an die Wiener Volksoper kam, gab es allerdings ein Intermezzo in Berlin.
Ja, Erich Kleiber lebte eine kurze Zeit in Ost-Berlin und sollte künstlerischer Leiter der Berliner Staatsoper unter den Linden werden. Carlos war bei ihm, und dirigierte in dieser Zeit offenbar sein erstes Bühnenstück. Das habe ich nicht erlebt. Aber meine Frau und ich waren dabei, wie er später in Salzburg 1959 seine erste Bohème dirigierte.

 

Kannten Sie Carlos Kleibers Mutter Ruth?
Natürlich.

 

Nach dem Tod Erich Kleibers im Jahr 1956 machte sie die Karriere ihres Sohnes zu ihrer Lebensaufgabe und half ihm, wo sie nur konnte. Es gibt Leute, die meinen, ohne sie hätte er gar nicht den Weg gehen können, den er gegangen ist.
Das glaube ich nicht. Es war so evident, dass er ein hochbegabter Musiker ist. Er kannte schon damals in Wien so viele Partituren. Wenn wir zusammensaßen, fachsimpelten wir natürlich darüber, wie wir das oder jenes dirigieren würden. Mir war klar, dass er Dirigent würde, ein Jahr früher oder später, und ich kann mir gar nicht vorstellen, dass seine Mutter entscheidend auf ihn eingewirkt hätte. Sie wird ihn unterstützt haben. Meine Mutter war ja auch dafür, dass ich Musiker werde.

 

Ruth Kleiber hatte die beiden Gastspiele am Salzburger Landestheater im Jahr 1959 in die Wege geleitet und auch prominente Kritiker wie den mit Erich Kleiber befreundeten Karl Heinz Ruppel eingeladen, der sehr positiv über ihren Sohn schrieb.
Na ja, wenn man einen Kritiker kennt und der Sohn zum ersten Mal dirigiert, dann ruft man eben an und fragt, Können Sie nach Salzburg kommen, mein Sohn dirigiert jetzt hier die ,Bohème.

 

Glauben Sie, dass Carlos Kleiber tatsächlich keine Lust hatte zu dirigieren, dass er lieber Farmer geworden wäre als Dirigent, wie er wohl selbst einmal kundtat?
Na ja, manchmal hat man einfach genug, dann sagt man eben so etwas. Aber dass er das wirklich dachte, glaube ich nicht.

 

Mit zunehmendem Alter wurde es ja immer schwieriger, Carlos Kleiber ans Pult zu bringen, und schon früh erwarb er sich den allerdings sehr fragwürdigen Ruf des notorischen Absagers.
Er war sehr empfindlich. Wenn es nicht nach seinem Kopf ging, dann war er gleich weg. Es musste nicht viel passieren, dass er verschwand.

 

Wie viele andere schafften es selbst Sie nicht, ihn für Dirigate zu gewinnen.
Ja, da gibt es eine Anekdote. Als ich Operndirektor in Frankfurt wurde, fuhr ich nach Stuttgart, wo Carlos damals engagiert war, um ihn zu fragen, ob er nicht bei uns eine Einstudierung machen würde. Das interessierte ihn allerdings nicht sehr. Wenn, sagte er, würde er bei uns Rosenkavalier mit seinen Sängern machen, mit denen er das Stück in München oder an der Scala dirigierte. Das wiederum interessierte uns überhaupt nicht. Wenn, dann sollte er mit unseren Sängern ein neues Stück erarbeiten.

 

Sagte er, dass er prinzipiell nicht gerne dirigiert?
Nein, dass sagte er nicht , sondern dass er halt lieber mit seinem Sohn im Wald spazieren ginge, als ein neues Stück zu lernen. Wir legten dann den geschäftlichen Teil beiseite, und er spielte mir seine Stuttgarter Rundfunk-Aufnahme der Fledermaus-Ouvertüre vor. Die ist ja wunderbar und gefiel mir auch sehr gut. Da sagte er: Und jetzt spiele ich dir etwas vor, das ist noch besser. Sagts und spielt die Aufnahme, die sein Vater 1928 mit dem Orchester der Staatsoper Berlin gemacht hatte. Die klingt fast preußisch streng, aber Erich Kleiber besaß aus Wien und Prag diese Mischung von Zurückhaltung und Übermut. Das ist wirklich ganz toll.

 

Sie schätzen ja nicht nur Erich Kleiber sehr, sondern auch Carlos Kleiber. Was unterscheidet Vater und Sohn, die sich in ihren Interpretationen so ähnlich sind? Ihnen selbst liegt ja neue Musik besonders am Herzen.
Carlos hat sich ja nie mit einer Institution so eingelassen wie sein Vater, der Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper wurde. Er interessierte sich auch nie so für neue Produktionen wie sein Vater. Allein die Uraufführung des Wozzeck 1925, aber auch die Uraufführung von Darius Milhauds Christophe Colombe oder die verschiedenen Schreker-Opern, die er in Berlin dirigierte, zeigen, dass er hinsichtlich neuer Musik viel neugieriger war als Carlos, der sich ja weitgehend auf etabliertes Repertoire verließ. Alban Bergs Wozzeck, den Carlos ebenfalls dirigierte, war Jahrzehnte später nicht mehr so eine Tat. Wobei Carlos Kleibers Wozzeck in München 1970 wunderbar, ganz toll war. Schon seine Stuttgarter Aufführungen sollen ausgezeichnet gewesen sein, nicht nur die des Wozzeck.