Der Stern von Carlos Kleiber strahlt weiter

Erstmals würdigen zwei ambitionierte Dokumentationen den legendären Pultstar im Film und auf DVD

Der Beitrag wurde mit Bezug auf Baden-Baden und das Festspielhaus konzipiert und ist am 8. August 2011 im Badischen Tagblatt, Kultur, erschienen

Badisches Tagblatt Carlos KLeiber 2011

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von Alexander Werner

Nachruhm bedeutete ihm nichts, und doch strahlt der Stern des legendären Maestros Carlos Kleiber ungebrochen weiter. Auf die erste umfassende Biografie des 2004 überraschend im Alter von 74 Jahren verstorbenen Pultstars folgten nun auf diese aufbauend zwei TV-Dokumentationen von Georg Wübbolt und Eric Schulz. Ebenso eine Premiere, die durch die diesjährigen Ausstrahlungen in 3Sat und Arte nebst begleitenden DVD-Ausgaben großes Aufsehen erregten.

Welche Wertschätzung Kleiber dazu unter Kollegen genießt, belegte im März eine Umfrage des „BBC Music Magazine“, wobei 100 der weltbesten Dirigenten Kleiber zum bedeutendsten Vertreter ihr Zunft aller Zeit kürten. Daneben geben zahllose junge Kapellmeister den 1930 in Berlin als Sohn des genialen Dirigenten Erich Kleiber geborenen Carlos als ihr großes Vorbild an.

Dem Festspielhaus in Baden-Baden war es leider nie vergönnt, den fast sagenumwobenen Carlos, der stets für frenetisch gefeierte musikalische Sternstunden sorgte, am Pult zu begrüßen. Gewiss auch, weil Kleiber ab den 80ern immer seltener auftrat und sich in den 90ern bis zu seinem Abschied vom Podium 1999 immer mehr zurückzog. Intensive Bemühungen um ihn gab es über Jahre. 1998 wurde es nichts mit der Eröffnung des Festspielhauses und auch später gelang es selbst mit hochdotierten Angeboten nicht, ihn zu locken.

Selbst nicht mithilfe von Richard Trimborn, der noch Ende 2003 vergeblich seine Überredungskünste einsetzte, um Kleiber endlich für Baden-Baden zu gewinnen. Der weltweit gefragte und auch am Festspielhaus aktive Studienleiter schien dafür als alter Freund Kleibers seit frühen Düsseldorfer Zeiten bestens geeignet. Doch nach dem Tod von Kleibers Frau Stanka schwand der Lebenswille des an Prostatakrebs erkrankten, erklärten „Ruheständlers“.

Trimborn ist einer von vielen Zeitzeugen, die in Georg Wübbolts Film „Lost to the World“ zu Wort kommen. Auch der in Baden-Baden wohlbekannte Otto Schenk, der mit Kleiber als Regisseur in so zeitlosen Produktionen wie „Fledermaus“ oder „Rosenkavalier“ zusammenarbeitete, weiß in beiden Filmen viel aus dem Nähkästchen zu erzählen. Ebenso wie Michael Gielen, früherer Chefdirigent des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, der mit Kleiber befreundet war und als profilierter Kollege Kleibers Kunst und fesselnde Wirkung treffend beschreibt.

Carlos Kleiber SDR 1970

Placido Domingo indessen, 2009 in Baden-Baden und Iffezheim bejubelt, stand nur Schulz für seinen Film „Traces to Nowhere“ Rede und Antwort. Sicher ein Plus für ihn, wie auch der Auftritt von Kleibers Schwester Veronika. Neben einer so empfundenen tiefer gehenden Dramaturgie mit ein Grund, dass Schulz bei vielen Kritikern in diesem „Kopf-an-Kopf-Rennen“ der Regisseure eine Nasenlänge vorne liegt. Belohnt wurde seine Doku nach dem Quartals-Spitzenplatz im Frühjahr auch mit dem Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik in der Kategorie DVD und nun gar dazu mit dem Echo-Klassik 2011.

Unterm Strich aber sind die Filme auf vergleichbarem Niveau angesiedelt. Auch Wübbolt rückt mit dem frühen Kleiber-Förderer Franz Willnauer, Ex-Intendant Sir Peter Jonas oder der Sängerin Ileana Cotrubas markante Zeitzeugen ins Licht. Konzeptionell bemüht er sich auch anhand von mehr Quellenmaterialien wie paraphrasierten Briefen aufwändiger um eine detailliertere Auseinandersetzung mit Kleibers Biografie, Werdegang und Weltentfremdung.

Ein besonderes Schmankerl ist das einzig überlieferte Interview des „Selbstverweigerers“ Kleiber, das im Rundfunk-Ton erhalten ist und seit 1960 nie mehr zu hören war. Seitdem gänzlich vergessen, war es erstmals in der Kleiber-Biografie von Schott dokumentiert worden. Auch Tonauszüge einer Probe aus Wien 1982, die mit Kleibers skandalöser „Fahrt in Blaue“ endete, ist ein öffentliches Novum. Kleiber ließ damals verärgert die Philharmoniker sitzen und damit Konzerte nebst TV-Übertragung und Plattenproduktion platzen.

Dass sich die Regisseure überhaupt an einen Film wagten, ist beachtlich, nachdem andere angesichts der rechtlich verfügbaren filmischen Quellen früh das Handtuch geworfen hatten. Mit extrem wenig Material mussten sie auskommen, mit Kleibers berühmten SDR-Proben 1970 vor allem, mit einer technisch defizitären aber spektakulären Dirigierstudie Kleibers im Bayreuther Orchestergraben 1976 oder mit Clips von einem späten Konzert in Ljubjana. Denn Kleibers Kinder verweigerten jegliche Ausschnittsrechte aus allen Oper- und Konzertmitschnitten, das ab Mitte der Siebziger Jahre produziert wurden. Angesichts der bei dieser Ausgangslage umso erstaunlicheren Leistung der Regisseure, dürfte es jedoch weitaus tragischer sein, dass die Erben auf unwägbare Zeiten hinaus konsequent das Familienarchiv unter Verschluss halten.


Alexander Werner,
Autor von „Carlos Kleiber. Eine Biografie“, Schott, Mainz, Fachberater und Interviewpartner der Filme:
Eric Schulz: „Traces to Nowhere“, ServusTV 2010, DVD, Arthaus 2011
Georg Wübbolt: „Lost to the World“, Moving Images 2010, DVD: C major 2011