Frühe Ausnahme von der Regel

Das bislang einzige überlieferte Interview von Carlos Kleiber


Carlos Kleiber hat nie ein Interview gegeben So oder so ähnlich war es immer wieder in den Medien zu lesen oder zu hören. Doch während der Recherchen für meine Kleiber-Biografie gelang es mir dennoch relativ schnell, eines ausfindig zu machen. In meinem Buch habe ich den Wortlaut dieses vergessenen und verschollenen Radio-Pauseninterviews vom 7. Dezember 1960 erstmals seit der damals um ein paar Tage zeitversetzten Ausstrahlung im NDR dokumentiert.

Die Regisseure der beiden jüngsten TV- und DVD-Dokumentationen waren höchst interessiert daran, meinem Tonmitschnitt für ihre Produktionen zu verwenden. Während es beim ersten Projekt Traces to Nowhere von Eric Schulz letztlich aus verschiedenen Gründen nicht dazu kam, sind Ausschnitte nun in Georg Wübbolts Film Lost to the World zu hören.

Carlos Kleiber 1960

Natürlich suchte ich bereits zu Beginn meiner Recherchen auch intensiv nach Interviews. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Kleiber nie eines gegeben hatte. Vor allem in seinen früheren Zeiten hoffte ich fündig zu werden. Kleiber selbst äußerte einmal, er habe sich nach einer schlechten Erfahrung in Wien entschieden, sich nie wieder auf Interviews einzulassen.

 

Ein wenig war mir das Glück hold, als ich 1999 auf das Interview stieß, dass ich dann zitierte. Es datiert vom 7. Dezember 1960, als Kleiber in Hamburg innerhalb der Reihe Podium der Jungen vier Werke dirigierte. Wenngleich ich Anhaltspunkte habe, dass Kleiber schon vorher als noch recht unbeleckter Dirigent, möglicherweise wie bei seinem Bühnendebüt in Potsdam 1954 auch unter Pseudonym, das eine oder andere Konzert gegeben hatte, handelt es sich um seinen frühesten belegten Konzertauftritt. Kleiber sowie die Solisten Heinz Holliger und Irene Güdel standen einem Journalisten des NDR in der Pause Rede und Antwort. Mag dieses Interview mit Kleiber zwar nur etwa fünf Minuten dauern, so besitzt es doch einen eminenten Wert. Nirgends sonst hört man ihn über seinen Werdegang oder seinen Vater Erich Kleiber sprechen.

Nicht alleine wegen des Interviews beansprucht dieses Konzert eine Ausnahmestellung. Deshalb unternahm ich immense Anstrengungen, um Mitschnitte aufzuspüren. Es verdient alleine schon wegen des für Kleiber singulären Programms mit Stücken von Telemann, Carl Philip Emanuel Bach, de Falla und Martinu höchstes Interesse. Beim NDR wusste um 2000 niemand mehr etwas von diesem Konzert. Das Band war offenbar längst gelöscht worden und blieb verschollen. Selbst an die einige Tage vorab im Studio aufgezeichnete Tafelmusik von Telemann, die Anfang der 90er-Jahre noch gesendet wurde, mochte sich damals keiner mehr erinnern. Glücklicherweise fand sich dann nicht nur der Aufnahmebeleg, sondern zumindest auch diese vorgezogene Studio-Aufnahme wieder. Bei dem Konzert musste ich also andere Wege beschreiten, hoffen, dass es irgendwo überlebt hatte. Ob es sich möglicherweise bei Kleiber selbst erhalten hat, lässt sich ohne Einblicke ins Familienarchiv leider weiter nicht verifizieren.
Nach meinem frühen Fund von Bachs Cellokonzert, schien es nur eine Frage der Zeit, auch den Rest des Konzerts zu entdecken. Dass es mir letztlich dennoch nicht gelang, dieses zu komplettieren, lag wohl vor allem daran, dass Kleiber damals nicht das prominentere NDR-Sinfonieorchester dirigierte, sondern das später aufgelöste Hamburger Rundfunkorchester und wenige, private Mitschnitte mit der Zeit vernichtet wurden.

Offenbar verschloss sich Kleiber in seinen frühen Jahren Interviews nicht. In Hamburg zierte er sich jedenfalls hörbar nicht. Zudem stand er am Anfang seiner Karriere und ihm lag viel daran, endlich regelmäßig dirigieren zu können und als frischer Kapellmeister auf sich aufmerksam zu machen. In Düsseldorf hatte er in dieser Zeit schon den Abschied erwogen, weil der Intendant ihm sehr lange sein Debüt am Pult vorenthielt.

Dass es sich um das einzige Interview Kleibers handeln sollte, erschien mir unwahrscheinlich. Gewiss gab es Anfragen, als er als Kapellmeister an der Deutschen Oper am Rhein, am Züricher Opernhaus und der Württembergischen Staatsoper engagiert war. Erfreut war ich etwa, als ich ein sehr frühes Zeitungsinterview mit Kleibers späterer Frau Stanka las, das anlässlich ihres Engagements als Tänzerin in Düsseldorf erschien. Offizielle oder private Zeitungsausschnittsarchive aber konzentrierten sich wesentlich auf Rezensionen von Aufführungen. Eine Ausnahme machte ein Artikel aus Düsseldorf anlässlich Kleibers erster Aufführung von La Bohème an der Deutschen Oper am Rhein. Der Autor, ein großer Erich-Kleiber-Anhänger, konnte dabei wohl eindeutig auf interne familiäre Informationen zurückgreifen. Die aber, so vermutete ich, dürfte er eher von Carlos Kleibers Mutter Ruth erhalten haben.

Meiner Einschätzung, dass Kleiber in den 60er-Jahren so interviewfeindlich nicht war, gab später der Wiener Journalist Karl Löbl neue Nahrung. Er erzählte mir , er habe Kleiber bei dessen Konzert während der Wiener Festwochen 1967 in der Pause für den ORF interviewt. Das zwar eher widerwillig, insofern, als seine Mutter Ruth ihn angeblich sozusagen zu Löbl schleppte.

Das Konzert wurde vom ORF übertragen, später aber bedauerlicherweise gelöscht. Bei privaten Mitschnitten vom Rundfunk fehlt ein Pauseninterview, ebenso wie bei einer Version, die mir ein alter Bekannter Kleibers zur Verfügung stellte. Kleiber hatte ihm seine eigene Aufnahme auf Band kopiert, die klanglich bislang klanglich beste, die mir bekannt ist. Auch hier fehlte das Interview. Möglicherweise könnte jedoch auch dieses Interview überlebt haben.

Warum sich Kleiber ab einem gewissen Zeitpunkt gänzlich Interviews verweigerte, ist eine andere Frage, bei der ganz persönliche Beweggründe, vor allem der Schutz seiner Privatsphäre eine Rolle spielten. Zumindest in diesem Punkt unterschied er sich von seinem Vater, von dem eine ganze Reihe gedruckte Interviews in meinen Archivordnern lagern. Da sich im Lauf der Jahre auch eine immense Zahl von Dokumenten über den Vater ansammelten, kam mir die Idee für ein neues Buchprojekt zu Erich Kleiber. Es wäre das erste seit der Biografie John Russels aus den 50er-Jahren geworden.
Als Knackpunkt erwies nur, dass dieser geniale, große Dirigent Erich Kleiber längst nicht mehr die Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfährt, die er verdient. Seine Emigration, die politischen Umstände bei seiner Rückkehr und sein früher Tod haben seinem Nachruhm sehr geschadet. Weder die Verlage noch die Plattenfirmen versprechen sich von einem neuen Buch über Erich Kleiber oder CDs sonderliche Absatzzahlen. Ein solches Projekt ließe sich vermutlich nur mithilfe von Sponsoren realisieren. Tragische Figuren sind beide Kleibers, jeder auf seine Weise.

Angesicht der Flut der Quellen, die ich aufgetan habe, fragte ich mich selbstverständlich auch, inwieweit mögliche weitere Interviews aus frühen Jahren die Erkenntnisse erweitern könnten. Ich denke, in biographischer Hinsicht durchaus. Besonders interessant wäre es tatsächlich, noch mehr über frühe praktische Erfahrungen zu erfahren. Und gerade das NDR-Interview beweist, dass er 1960 durchaus bereit war, öffentlich über seinen Vater und dessen Wirkung auf ihn selbst zu sprechen.

Nachvollziehbar ist die auch ohne Interviews, allein schon durch die Briefe, die mir vorliegen und durch Aussagen von Zeitzeugen wie Heinz Holliger, der 1960 auch miterlebte, wie akribisch Kleiber schon am Anfang seiner Dirigentenlaufbahn am Notenmaterial feilte. Da allerdings bis in die 60er-Jahre stets der große Erich Kleiber über allem thronte, bezweifle ich, dass ein Journalist Kleiber intensiver und ausführlicher zu seinen eigenen künstlerischen Idealen befragt hätte. Mag sein, dass ihn das, abgesehen von der bei Kleibers stets geschützten Privatsphäre, schon früh am Sinn von Interviews zweifeln ließ. Wie sich dann auch zeigte, galten der Presse angebliche Paradiesvogel-Verhaltensweisen mehr als eine wirklich fundierte Auseinandersetzung mit dem Menschen und Künstler Kleiber. Insofern war ihm auch klar, dass er in einen Sog geriete, würde er sich der Presse öffnen. Reizvoll wäre es, aus kritisch geprüften überlieferten Äußerungen und Briefen Kleibers ein imaginäres, ausführliches Interview zu konstruieren. Wesentlicher und schmerzlicher als Kleibers Interviewfeindlichkeit aber ist, dass er zu wenig Hörbares hinterlassen hat.

Solange über das Privatarchiv Kleibers nichts bekannt wird, ist schwer einzuschätzen, mit welchen Überraschungen man hier zumindest beim Live-Vermächtnis noch rechnen könnte. Definitiv hat Kleiber an der Deutschen Oper am Rhein Aufführungen mitschneiden lassen. Bei dem vielfältigen Repertoire, das er dort dirigierte, kann man nur hoffen, dass diese Dokumente überlebt haben. Eher als Aufführungen während seines anschließenden Engagements in Zürich. Aber auch in Stuttgart wurde mitgeschnitten. Dort dirigierte Kleiber zwar schon weniger Repertoire, aber beispielsweise auch Rigoletto oder Butterfly.

Tragisch wäre natürlich, wenn Kleiber vor seinem Tod oder bereits früher Aufnahmen vernichtet hätte. Mir fällt da etwa Clemens Hellsberg ein, der mir erzählte, Kleiber habe ihm gesagt, er habe den Mitschnitt seines Konzerts von den Wiener Festwochen 1967 mit Mahler und Mozart weggeworfen. Nun, ob das stimmt, ist fraglich und das Konzert ist erhalten. Nur, ruhen in Kleibers Archiv wirklich Aufnahmen, die auf alten Tonbändern konserviert und nicht auf anderen Tonträgern gesichert wurden, dann kann denen von heute auf morgen der Zahn der Zeit den Garaus machen. Das wäre zutiefst schmerzliche und würde Öl in das Feuer des tragischen Helden Kleiber gießen.

Bei schriftlichen Dokumenten gestaltet sich die Lage so, dass ab einer gewissen Stufe seiner Karriere, viele Freunde, Bekannte oder künstlerisch mit Kleiber in Kontakt stehende Menschen, Briefe des überaus schreibfreudigen Dirigenten aufbewahrten. Gesichert ist auch, dass Kleiber dies ebenso mit der sehr großen Zahl von Briefen seines Vaters an Gattin Ruth tat, die diese archiviert hatte. Allerdings muss man derzeit befürchten, dass Erich Kleiber selbst nicht so sorgsam mit der heute sehr wertvollen Korrespondenz umging, die Briefe von Ruth Kleiber an ihren Mann verloren sein könnten und mit ihnen eventuell auch das Gros derjenigen, mit denen Carlos immer wieder seinen Vater erfreute. Zumindest diejenigen, die ihn erreichten, wenn er alleine ohne seine Frau auf Reisen war. Im Gegensatz zu ihrem Mann neigte Ruth Kleiber dazu, gegenüber Dritten freigiebiger mit privaten Informationen umzugehen. Insofern finden sich auch in ihren Briefen häufig gerade Anmerkungen zu ihrem geliebten Sohn. Sollten noch weitere auftauchen, wie unlängst über eine Ebay-Auktion geschehen, können auch diese durchaus wertvolle Aufschlüsse über Carlos und Erich Kleiber vermitteln.

Dennoch lässt mich ein kleines Bündel von familiären Korrespondenzen hoffen, die ich über die besagten Briefe Erich Kleibers an seine Frau hinaus in Kopien einsehen konnte,. Darunter fanden sich Briefe von Carlos an seine Mutter und seinen Vater in den 40er- und 50er-Jahren und solche des Vaters und der Mutter an den Sohn. Weitere Aufschlüsse könnte auch hier vor allem das Familienarchiv geben, das ebenso Kleibers Partituren und mögliche andere schriftliche, auch literarische Zeugnisse beherbergen dürfte.

Alexander Werner