Doch als Kleiber am 7. Dezember 1960 beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg den Stab für sein vielleicht nicht erstes, jedenfalls frühestes eindeutig nachgewiesenes Konzert hob, galt er noch als weitgehend unbeschriebenes Blatt. Bei Orchesterkonzerten fehlten ihm nach-haltige Erfahrungen und er hatte nur bedingt Einfluss auf das Programm.
Erhalten ist glücklicherweise die Version der Telemann-Suite, die Kleiber vorab im NDR-Studio am 1./2. Dezember aufnahm. Das zeitversetzt gesendete Konzert selbst aber wurde beim NDR offenbar zeitig gelöscht. Nach meinen derzeitigen Erkenntnissen hat davon mögli-cherweise lediglich das auf dieser Edition erstmals veröffentlichte Cellokonzert Bachs in pri-vat vom Radio überspielten Varianten überlebt. Dazu noch eine ganz besondere Rarität: das seit der Ausstrahlung 1960 erstmals von mir in meiner Kleiber-Biografie dokumentierte und bis dato einzig bekannte und dazu im Ton überlieferte Interview von Carlos Kleiber, das er in der Pause des Konzerts gab. Wenngleich es nur wenige Minuten währte, erlebt man Carlos Kleiber nirgendwo sonst über sich und seinen Vater sprechen. Offensichtlich war er in seinen Anfängen noch willens, vor einem Mikrophon Rede und Antwort zu stehen und tat dies zwar bescheiden, aber unbeschwert mit weicher Stimme und leichtem Akzent.
Das im Konzert ebenfalls gespielte Oboenkonzert von Bohuslav Martin? wählte der später weltberühmte Oboist Heinz Holliger aus. Wie er hatte sich auch die Schweizer Cellistin Irene Güdel damals schon einen Namen gemacht und ihr außergewöhnliches Talent bei internatio-nalen Auftritten bewiesen. Bereits 1957 hatte die heute 81-Jährige daneben ihre Jahrzehnte währende Lehrtätigkeit an der Musikhochschule Detmold aufgenommen. Das Cellokonzert von Bach habe sie ursprünglich gar nicht spielen wollen, erzählte sie mir während meiner Recherchen für meine Carlos-Kleiber-Biografie, aber es habe schließlich zu Telemann ins Programm gepasst.
Durchaus naheliegend, dass sich der 30jährige Kleiber die Suite des einst in Hamburg so er-folgreichen Musikers Telemann und die drei Tänze aus Manuel de Fallas Ballettmusik „Der Dreispitz“ gewünscht hatte. Denn einerseits hatte Carlos die Suite und de Falla in Cuba von seinem Vater Erich gehört, den er hoch verehrte und sich dessen Repertoire stets verpflichtet fühlte. Zum anderen kam dies dem Hamburger Rundfunkorchester entgegen, das nicht das Niveau des renommierten NDR-Sinfonieorchesters besaß und neben Popularmusik im klassi-schen Genre eher die leichtere Muse pflegte. Dennoch ein namhaftes Orchester und eine gute Chance für die Talente, sich in der NDR-Reihe „Podium der Jungen“ zu profilieren und per Rundfunk ein breiteres Publikum zu erreichen.
Pressestimmen zur CD-Veröffentlichung
aus Klassik Com "Unbekanntes mit Carlos Kleiber", Sophia Gustorff, 27.11.2011
"Der junge Carlos Kleiber nutzte die Chance, den Stücken neuen Glanz zu verleihen. Er löste sich von den ‚klassisch-romantischen Idealen‘, welche, was die Interpretation angeht, Mitte des 20. Jahrhunderts als vorherrschender Interpretationsstil auf die Werke sämtlicher Epochen übertragen wurden, und bewegte sich schon früh in eine Richtung, die bis (und besonders) heute starke Reflexion erfährt: die Historische Aufführungspraxis – ein Aspekt, der zurecht auch im Booklet-Text durch den Kleiber-Biografen Alexander Werner hervorgehoben wird. Es wurde auf einen trocken-federnden Tonfluss und ein lockeres, aber filigranes Konzertieren Wert gelegt anstatt schwülstiger Schwere in Ton und Gestus, die in früheren Aufnahmen zu verzeichnen sind."